Routinescreening nach möglicher häuslicher Gewalt
Langtitel der Maßnahme: Routinescreening nach möglicher häuslicher Gewalt an der Allgemeinen Notfallaufnahme und der Ambulanz der Allgemeinen Chirurgie des Landeskrankenhauses Innsbruck
Einrichtung: Opferschutzgruppe des Landeskrankenhauses Innsbruck
Zuständiger Leiter & Maßnahmenkoordinator: Priv.-Doz. Dr. Thomas Beck, thomas.beck@tirol-kliniken.at
Laufzeit: seit April 2019, laufend
Schwerpunkt: Gute Gesundheitsinformation (GGI)
Wirkungsbereich: Tirol
Beschreibung
Es gibt klare Hinweise darauf, dass ein Screening nach häuslicher Gewalt als Routine in Krankenhäusern machbar und von den Patient/-innen gut akzeptiert ist, insbesondere wenn es in sensibler und nicht wertender Weise durchgeführt wird (Mørk, Andersen & Taket, 2014; Phelan, 2007; Stockl et al., 2013). Um diese Maßnahmen umsetzen können, braucht es als klare Voraussetzung eine hohe Bereitschaft zur Sensibilität und entsprechende Gesundheitskompetenz bei allen Mitarbeiter/-innen. Deshalb wurden mit April 2019 an der Zentralen Notaufnahme sowie der Ambulanz der Allgemeinen Chirurgie des Landeskrankenhauses Innsbruck drei einfache Screening-Fragen („Weiß jemand, dass Sie hier sind?“, „Darf jemand nicht wissen, dass Sie hier sind?“, „Gibt es in Ihrer Umgebung jemanden, der Ihnen Unbehagen oder Angst bereitet?“) in die Triage aufgenommen, die die Identifikation von gewaltbetroffenen Patient/-innen effizienter gestalten sollen. Entsprechende „ja“-Antworten auf die Fragen 2 und 3 führen zu einem standardisierten Vorgehen nach dem stationseigenen Patientenpfad für den Verdacht, dass die Patient/-innen gewaltbetroffen sein könnten.
Ausgangslage
Eine große europäische Studie zeigte, dass ca. 60% von häuslicher Gewalt betroffener Frauen Hilfe im Gesundheitswesen suchen, vorwiegend in Krankenhäusern (FRA, 2014). Eine australische Studie ergab, dass 85% der von häuslicher Gewalt Betroffenen mindestens 5 Mal im Jahr Hilfe im Gesundheitswesen suchen, aber nur 10% nach Gewalterfahrungen befragt werden (Hegarty et al., 2010). Knappe Zeitressourcen, eigene Unsicherheit in Bezug auf dieses Thema und auch die Angst vor negativen emotionalen Reaktionen geben ÄrztInnen als Hindernis für die Befragung nach einem möglichen Erleben von häuslicher Gewalt an (Sprague et al., 2012). In einer eigenen früheren Studie zeigte sich eine Lebenszeitprävalenz für häusliche Gewalterfahrungen von ca. 17%, wobei lediglich 5% der betroffenen Patient/-innen auf Gewalterfahrungen angesprochen worden sind (Riedl et al., 2019).
Es gibt klare Hinweise darauf, dass ein Screening nach häuslicher Gewalt als Routine in Krankenhäusern machbar und von den Patient/-innen gut akzeptiert ist, insbesondere wenn es in sensibler und nicht wertender Weise durchgeführt wird (Mørk, Andersen & Taket, 2014; Phelan, 2007; Stockl et al., 2013). Um diese Maßnahmen umsetzen können, braucht es als klare Voraussetzung eine hohe Bereitschaft zur Sensibilität und entsprechende Gesundheitskompetenz bei allen Mitarbeiter/-innen. Aber es ist auch ein hohes Problembewusstsein seitens der gesamten Organisation und der Führung nötig. Ohne diese Unterstützung sind entsprechende Maßnahmen nicht umsetzbar.
Obwohl das Erleben von Gewalt nachweislich massive Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit der Betroffenen hat (deutliche Erhöhung von z.B. chronischen Schmerzen, Herz-Kreislauferkranken, gastronintestinalen Beschwerden, gynäkologischen Problemen, Depressionen, Essstörungen, PTSD; Campell 2002; Sarkar 2008) wird das Phänomen Gewalt noch kaum als „Gesundheitsproblem“ erkannt. Daher ist die Unterstützung von Organisationen im Erkennen von Gewalt aus der Perspektive der Gesundheitskompetenz genauso essentiell wie die Unterstützung und der Schutz der direkt Betroffenen.
Zielsetzung
Deshalb wurden mit April 2019 an der Zentralen Notaufnahme sowie der Ambulanz der Allgemeinen Chirurgie des Landeskrankenhauses Innsbruck drei einfache Screening-Fragen („Weiß jemand, dass Sie hier sind?“, „Darf jemand nicht wissen, dass Sie hier sind?“, „Gibt es in Ihrer Umgebung jemanden, der Ihnen Unbehagen oder Angst bereitet?“) in die Triage aufgenommen, die die Identifikation von gewaltbetroffenen Patient/-innen effizienter gestalten sollen. Der Umgang mit den „Triagefragen“ ist nicht nur immer wieder Teil der Dienstbesprechungen, sondern es nehmen auch sukzessive alle Mitarbeiter/-innen an den Ganztagesworkshops teil. Mit Ausnahme vitalbedrohter Patient/-innen sollen seitens der Pflege möglichst alle Patient/-innen entsprechend befragt und die Antworten in der Pflegedokumentation festgehalten werden. Entsprechende „ja“-Antworten auf die Fragen 2 und 3 führen zu einem standardisierten Vorgehen nach dem stationseigenen Patientenpfad für den Verdacht, dass die Patient/-innen gewaltbetroffen sein könnten. Für etwaige Sprachprobleme steht rund um die Uhr ein Dolmetschersystem über Tablets zur Verfügung und Hilfestellungen in einfacher Sprache werden erarbeitet. Durch diese Maßnahmen wird das gute Verständnis und eine hohe Gesprächsqualität zwischen Patient/-innen und Mitarbeiter/-innen gewährleistet.
Zielgruppen
- Zielgruppen im Setting Gesundheits- und Sozialwesen/(öffentliche) Dienstleistungen: Patientinnen/Patienten, Klientinnen/Klienten, Ärztinnen/Ärzte, Pflege- und Betreuungspersonal, Andere nichtärztliche Berufsgruppen (Hebammen, Physiotherapeutinnen/Physiotherapeuten etc.), Berufsgruppen der psychosozialen Versorgung (Psychologinnen/Psychologen, Sozialarbeiter/-innen etc.), Gesundheitsförderungsberater/-innen, Gesundheitsexpertinnen/Gesundheitsexperten
Methodik
In speziellen Schulungen wird das medizinische Fachpersonal im Rahmen eines dreistufigen Schulungsprogramms (kurze Einführung, Basisschulung über 90 Minuten, Tagesworkshop; Beck et al. 2020) im Umgang mit gewaltbetroffenen Patient/-innen geschult. Ein zentraler Punkt der Schulungen ist die Gesprächsführung mit Gewaltbetroffenen. Neben der Vermittlung theoretischer Inhalte, stehen vor allem praktische Übungen zur Gesprächsführung und zur Vermittlung von Sicherheit an die Betroffenen im Mittelpunkt. Dies geschieht einerseits über Videobeispiele von Betroffenen und andererseits über Rollenspiele. Bei den Rollenspielen steht neben der Gesprächsführung auch die emotionale Sicherheit von beiden, Betroffenen und Personal, im Mittelpunkt. Die Anwendung der drei Fragen im Rahmen der Triage wird in den Schulungen speziell behandelt und das Personal auf die Konsequenzen aus den jeweiligen Antworten vorbereitet. Weiters stehen die Mitglieder der Opferschutzgruppe den Kolleginnen und Kollegen stets für Fragen zur Verfügung.
Neben theoretischen Inhalten bestehen die Schulungen aus vielen praktischen Inhalten, wie Rollenspielen und Fallbesprechungen, damit ein möglichst klarer Transfer zur praktischen Anwendung der Triagefragen gewährleistet werden kann. Ebenso gibt es regelmäßige Evaluationen der Fragen und der praktischen Umsetzung. Die Anwendung der Fragen wird auch in den Dienstbesprechungen in regelmäßigen Abständen behandelt.
Beitrag zum Wirkungsziel 1
Das Ansprechen von möglichen Gewaltwiderfahrnissen im Zuge der Routineaufnahme an der zentralen Notaufnahme und der Ambulanz der Allgemeinen Chirurgie leistet auf mehreren Ebenen Beiträge zur Erreichung des Wirkungsziels 1.
Durch diese Enttabuisierung und eine standardisierte Form der Ausbildung kann die Qualität der Kommunikation in der Krankenversorgung deutlich gesteigert werden. Zugleich erleichtert die entsprechende Sensibilisierung Maßnahmen der Gesundheitsförderung, da das Erleben von Gewalt in direktem Zusammenhang mit körperlichen und psychischen Erkrankungen stehen. Wiederum die Enttabuisierung durch das direkte Ansprechen und auch die damit und anderen Maßnahmen (Poster, Spot im Ambulanz-TV usw.) verbundene Präsenz stellt durchaus eine präventive Maßnahme dar.
Die Gesundheitskompetenz aller betroffenen Personengruppen wird vor allem durch das Bewusstmachen des Themas und der Problematik von häuslicher Gewalt gestärkt und auf das Problemfeld der Folgen von Gewalt fokussiert. Vor allem die Steigerung der Kompetenz der betroffenen Patientinnen und Patienten in Bezug die Erkennung von Anzeichen von Gewaltwiderfahrnissen und den Zusammenhängen mit möglichen Symptomen wird durch diese Maßnahme deutlich erhöht. Somit wird es erleichtert, dass sich die Betroffenen leichter auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Gewalt fokussieren und sich so der gesundheitlichen Konsequenzen (körperlich und psychisch) bewusster zu werden und in der Folge auch präventiv agieren zu können. Hier gibt es für die Betroffenen konkrete Angebote, was sie in der akuten Situation machen können und auch an wen sie sich direkt wenden können (z.B. unmittelbares psychotherapeutisches Angebot der Klinik, Vermittlung an Beratungsstellen), um so die Gesundheitskompetenz der Betroffenen akut zu stärken.
In gleichem Maße trägt die Sensibilisierung des medizinischen Fachpersonals zur Stärkung der Gesundheitskompetenz bei. Hier ist besonders zu erwähnen, dass der Abbau diverser Stigmata beim medizinischen Fachpersonal, die nachweislich zu einer Symptomverstärkung, sowohl bei somatischen, als auch bei psychischen Symptomen, führen (Kennedy&Prock, 2018), durch die Routinebefragung, die Gesundheitskompetenz bei allen betroffenen Personengruppen erhöht. Nicht vergessen werden darf natürlich auch, dass durch die Routinebefragung und die damit verbundenen Schulungsmaßnahmen auch bei selbst von Gewalt betroffenen Angehörigen des medizinischen Fachpersonals eine entsprechende Verbesserung dieser Kompetenz erfolgen wird.
Die Routinescreenings und die dafür durchgeführten Schulungen führen somit zu einer nachhaltigen Verbesserung der Gesundheitskompetenz aller Beteiligten, da die Auswirkungen von Gewalt auf die somatische und psychische Gesundheit der Betroffenen bewusster werden. Dadurch können nicht nur raschere Hilfen gegen bereits bestehende Gesundheitsprobleme geboten werden, sondern auch Präventionsmaßnahmen leichter implementiert werden. Für das Personal wird durch das Routinescreening die Hürde, mögliche Gewalt erkennen und in der Folge ansprechen zu müssen, deutlich reduziert, wodurch es leichter fällt, ein emotional sehr schwieriges Thema patientenzentriert anzusprechen zu können. Dadurch wird ein wichtiger Beitrag zur themenspezifischen Gesprächsqualität im Krankenhaus geleistet.
Die durchgeführten Schulungen und die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema „häusliche Gewalt“ durch die Routinebefragung erweitern den Alltag im Krankenhaus sehr deutlich um entsprechende Gesundheitsförderungs- und Präventionsinhalte. Dabei dürfen nie die klaren Zusammenhänge zwischen physischen und psychischen Erkrankungen und Gewaltwiderfahrnissen einerseits, sowie dem klaren präventiven Charakter der Enttabuisierung von Gewalt außer Acht gelassen werden (Felitti el al., 1998; Riedl et al. 2019).